„Der hat keinen Geschmack.“ „Das schmeckt mir.“ Aber was ist das, eigentlich genau, Geschmack? Was für Mittel haben wir, den Geschmack von Speisen zu beschreiben? Und wie schaffen wir es, möglichst viel davon an unsere Gerichte zu bringen? Mit diesen Fragen beschäftigt sich das neue Buch von Jürgen Dollase. Das heißt, ganz neu ist es nicht – es ist eine Neuauflage mit Zusatztexten, die nun in der Gourmetedition der Süddeutschen Zeitung erschienen ist.
Grob unterteilt ist das Buch in einen theoretischen Teil und in einen Teil mit praktischen „Übungen“ : es werden jeweils auf einer Doppelseite Löffelgerichte zum Nachkochen präsentiert; dabei finden wir je eine Degustationsnotiz mit dem entsprechenden Kurvendiagramm.
Aber beginnen wir mit der Theorie: Da gibt es zunächst ein einführendes Kapitel, das das Ziel des Buches erklärt: nämlich herauszufinden, welche Elemente bewirken, dass wir den Geschmack einer Mahlzeit als angenehm oder sogar hervorragend finden. Danach geht es um die Frage – was ist eigentlich Geschmack, was macht ihn denn aus? Dabei geht es nicht nur um die Geschmackrichtungen süß, sauer, salzig, bitter und umami – nein, wie eine Speise schmeckt, wird auch von Konsistenz und Temperatur bestimmt, davon wie sie sich anfühlt, wie sie klingt (denkt an das Knuspergeräusch beim Kartoffelchip und überlegt mal, wie es wäre, wenn das nicht da wäre) und natürlich auch davon, wie sie aussieht. In diesem Kapitel werden auch verschiedene Aromen, Texturen und ihre Wirkung vorgestellt.
Danach wird anhand einiger stufenweise aufgebauten Beispiel-Löffel an unserer Sensibilisierung gearbeitet. Auf den Löffel kommt zunächst nur Joghurt, dann zusätzlich Konfitüre, anschließend noch Apfelstückchen, dann ein Stück Walnuss und schließlich etwas Zwieback. Die entstehenden Effekte werden erklärt, man kann alles ausprobieren und die Auswirkungen studieren. Wie man mit Texturen und Temperaturen Allerweltsgerichte wie zum Beipiel einen Salat aufpeppen kann, wird ebenfalls an Beispielen erklärt und einzelne Elemente und ihre Wirkung dargestellt – zum Beispiel Blätterteigbruch als krosses und Salami als nachhaltiges Element.
Ein Problem gibt es, wenn wir über Essen sprechen – es fehlen uns oft die Worte. Wie schmeckt denn nun eine Kartoffel? Kartoffelig? Und was unterscheidet eine wohlschmeckende Kartoffel von einer langweiligen? Wie drücke ich das aus? Hier greift Jürgen Dollase auf grafische Darstellungen zurück; Zeitspanne und (Wirkungs)Intensität) der einzelnen Elemente werden in Kurvendiagrammen dargestellt.
Nach einigen Produktinformationen geht es an den praktischen Teil; das erworbene Wissen kann an vielen Löffelgerichten ausprobiert werden. Warum Löffelgerichte? So soll sichergestellt werden, dass alle Tester den gleichen Eindruck vom Gericht haben können – bei allen landen alle Komponenten gleichzeitig im Mund.
Auf den Löffeln werden die verschiedensten Gerichte präsentiert. Manche Löffel kommen mit wenigen Zutaten aus, bei anderen ist der Aufwand größer, aber immer werden auf engstem Raum verschiedene Konsistenzen und/oder Temperaturen vereint.
Hier zur Illustration ein Beispiel. Ich habe den Löffel „Erbsensuppe, teilweise dekonstruiert“ ausprobiert. Erstmal zum Rezept:
Erbspüree:
- Erbsen, frisch oder TK
- Schalotten
- Butter (ungesalzen)
- Gemüsebrühe
- Zitrone
- Sahne
Speckwürfel:
- Leicht geräucherter Bauchspeck
- Butter
Butterbrösel:
- Butter
- Paniermehl (ich hatte Panko)
Außerdem:
- rohe, gut gekühlte Erbsen
- pro Löffel 3 Erdnüsse, geröstet und gesalzen
Frische Erbsen auslösen; es sollen nur ganze Erbsen verwendet werden. Schalotte schälen und würfeln, in Butter anschwitzen. Erbsen zugeben, kurz durchrühren, einen Spritzer Zitronensaft zugeben und soviel Gemüsebrühe angießen, dass die Erbsen knapp bedeckt sind. Vorsichtig garen, dabei die Brühe auf ein Drittel reduzieren. Etwas abkühlen lassen, dann mit Sahne pürieren. Verhältnis: 1 Teil Sahne auf 4 Teile Erbsen. Püree kalt stellen.
Für die Speckwürfel den Speck in Würfel von ca. 6 mm Kantenlänge schneiden. Etwas Butter in einer Pfanne aufschäumen und die Speckwürfel darin kross braten, dann auf Küchenkrepp abtropfen lassen.
Für die Butterbrösel Butter in einer kleinen, beschichteten Pfanne schmelzen. Das Paniermehl einrühren und rösten, bis sich kleine Klümpchen bilden. Auf Küchenkrepp antrocknen lassen.
So, jetzt zum Anrichten: dafür den Boden des Löffels mit Erbspüree füllen. Auf dem Püree jeweils einige rohe Erbsen, drei Erdnüsse, einige Speckwürfel und etwas von den Butterbröseln verteilen.
Und was sagt uns das? Hier die Degustationsnotiz von Jürgen Dollase: Das Püree ist kalt. Das hat zur Folge, dass wir sein Aroma mit leichter Verzögerung wahrnehmen. Während sich das Aroma des Pürees langsam entwickelt, folgen ihm die Wahrnehmung des Specks und der Nüsse. Insgesamt bleibt der Geschmackseindruck lange haften, weil verschiedene krosse Texturen im Spiel sind und Speck und Nüsse langfristig wirken.
Im Diagramm sieht das so aus, dass Erbspüree und Butterbrösel in gleichmäßigen Kurven ihre Wirkung entfalten, während die Erdnüsse eher immer wieder kurz und prägnant auf sich aufmerksam machen.
Ich habe es ein wenig anders empfunden … für mich war der Geschmack der Erbsen nur sehr kurz wahrnehmbar. Im Gedächtnis blieben Speck und Erdnüsse.
Wer sich noch näher mit der Materie befassen möchte, für den gibt es nach den einzelnen Löffeln ein Fünfgangmenü – ebenfalls aus Löffeln zusammengesetzt und, als Highlight 10 Löffelgerichte von Spitzenköchen wie Juan Amador, Christian Bau, Nils Henkel oder Joachim Wissler. Die Löffelgerichte haben zum Ausprobieren ihre Vorteile, sind aber nicht realitätsnah. Deshalb finden wir gegen Ende des Buches auch noch einige Beispielteller, so kann man seine Erkenntnisse auch mit „richtigen Mahlzeiten“ wie einem italienischen Degustationsteller, einem asiatischen Degustationsteller oder Kartoffelvariationen vertiefen. Außerdem warten noch 3 verschiedene „Do-it-yourself-Kits“ auf ihren Einsatz: es handelt sich um Sets, die Komponenten wie Kartoffelstroh, getrockneten Schinken oder geräucherte Forellenfilets enthalten und es einem ermöglichen sollen, selbst Experimente anzustellen. Die einzelnen Elemente sind in Herstellung und Wirkung genau erklärt.
Ich habe noch gar nichts zur Optik gesagt: Vor mir liegt ein hochwertig aufgemachter Band mit Fadenheftung und Lesebändchen. Das Layout ist sehr pur und sachlich. Es gibt sehr viele Fotos von den verwendeten Produkten. Zur Unterstreichung der Sachlichkeit sind die Produkte nicht auf Tellern abgebildet, sondern die Fotos auf das weiße Papier gedruckt. Auch zu den einzelnen Löffelgerichten gibt es jeweils eine Abbildung: das Gericht ist auf einem mit wenigen schwarzen Strichen gezeichneten Löffel dargestellt; der Hintergrund ist auch hier die weiße Buchseite. Die Gerichte wurden fotografiert, sehen aber doch ein wenig aus wie gezeichnet; die Farben wirken auf mich unnatürlich. Dadurch, dass viele verschiedene Komponenten auf den Löffel gepackt wurden, wirken die Löffel sehr überfrachtet und wenig appetitanregend.
Fazit: Wer sich dafür interessiert, wie man die Elemente eines Gerichts am besten zusammensetzt, um maximalen Genuss zu erhalten, wie sich Temperaturen und Konsistenzen auswirken und wer das anhand von praktischen Beispielen ausprobieren möchte, der findet hier spannende Lektüre. Klasse finde ich auch, dass man Werkzeug an die Hand bekommt, um Essen besser beschreiben zu können; denn da fehlen uns ja oft (noch) die richtigen Worte.
- Gebundene Ausgabe: 192 Seiten
- Verlag: Tre Torri Verlag (8. April 2017)
- Sprache: Deutsch
- ISBN 978-3960330097
- € 39,90
Toll Susanne, Dollase ist für mich ein Buch mit sieben Siegeln, ich habe gerne seine Kolumne in der FAZ gelesen, aber auch viel Ehrfurcht vor diesem gnadenlosen Kritiker entwickelt. Schön, dass Du Dir hier die Mühe gemacht hast, dass für uns mal ein wenig aufzudröseln und nicht nur Allgemeinplätze nachzubeten. Das unterscheidet für mich eine echte Rezension von einem Pressetext und macht mir Mut, seine doch recht elitäre Herangehensweise auch für mich zu entdecken. Danke Dir dafür sehr.
Liebe Ira, ich glaube nicht, dass Dollase für Dich ein Buch mit sieben Siegeln ist; Du kochst ja viel und beschäftigst Dich mit der Materie. Dann ist da nicht so viel grundlegend Neues im Buch; es wird halt vertieft.
Ich bin mir auch nicht sicher, ob Ehrfurcht angebracht ist. Sicherlich weiß der Mann viel, aber er scheint auch mit einem sehr gesundes Selbstbewußtsein und einem gewissen Anspruch darauf, dass es nur eine Wahrheit gibt, gesegnet zu sein ;-).
Ein sehr ausführlicher Bericht über das Buch. Schön wie du es für uns erklärt hast. Geschmack in Wirten zu beschreiben ist definitiv nicht einfach. Die idee alles auf einem Löffel zu packen ist ja nicht neu aber sicherlich spannend. Ich wollte auch schon immer einer Blindverkostung teilnehmen, muss spannend sein, so wie dieses Buch. Eine gute Anleitung dazu…vielen Dank dafür!LGMalou
Blindverkostung wäre sicherlich spannend, ja. Ich habe das mal mit Riechen gemacht. Da ich kein besonders feines Näschen habe, war das ganz schön demotivierend :-(.
Das bestätigt meine Vermutung, selbsternannte Heilige sind mir unsympathisch, auch wenn ich kein Buch von ihm kenne und das eine ist persönlich und das andere die fachliche Beurteilung. Umso schöner wenn, mal wieder der Kontext hergestellt wird, um ein solches Buch zu besprechen, und nicht nur Heldenverehrung betrieben wird. Das macht für mich Deine Rezension aus.
Puh, anspruchsvoll. Wobei ich es mir nett vorstelle, so ein Buch in einem kleinen Grüppchen interessierter Menschen quasi „durchzuarbeiten“: zu kochen, auszuprobieren und darüber zu diskutieren. Wir brauchen kulinarische Lesezirkel, jawoll! Schade, dass Du so weit weg wohnst …
Das ist eine hervorragende Idee, dass macht bestimmt Spaß. Und diese Löffel, die probiert man sowieso am besten in der Gruppe.
puh, eine so diffizile Herangehensweise- ich glaub das ist nicht das Richtige für mich. Davon hab ich von Berufs wegen grade genug… und grade drum auch für mich eine wertvolle Rezension.
Glaube ich sofort – man muss auch mal anders an Sachen herangehen als im Beruf :-).
unbedingt, ich liebe die Improvisation und Variation…. beim Kochen wie beim Singen.
Danke, dass Du das Buch besprochen hast. Es hat also einen theoretischen Teil gefolgt von einem Praktischen. Aber das ist nicht verwunderlich, es nennt sich ja auch schon „Geschmacksschule“ und so ist wohl die Form vom Unterricht in der Schule abgeschaut. Aber wie heißt es schon so schön: Nicht für das Leben lernen wir, für die Schule.
Liebe Grüße Christian
War das nicht andersherum? 😉
Tja, das habe ich auch lange Zeit geglaubt. Aber den Spruch „andersherum“ so wie wir in kennen, ist vielmehr anders herum. Seneca: Non vitae, sed scholae discimus
https://de.wikipedia.org/wiki/Non_vitae,_sed_scholae_discimus
in -> ihn